Ich bin Zürcherin durch und durch. Dazu gehört auch, dass ich als Tochter einer Zünftersfamilie jedes Jahr auf das Sechseläuten plange. Auch wenn der traditionelle Brauch wenig mit dem modernen Frauenbild zu tun hat, welches ich gerne vertrete – am Sechseläuten sitze ich gemeinsam mit meiner Mutter und Schwester sowie einigen Freundinnen mit Körben voll Rosen an der Bahnhofstrasse. Bei bester Laune und mit einem Gläschen Weisswein in der Hand warten wir dann jeweils auf die vorbeiziehenden zünftigen Verwandten und Freunde, um ihnen ein Blüemli in die Hand und ein Küsschen auf die Backe zu drücken. Dieses Jahr ist alles anders. Statt am Umzugsrand, sitze ich an diesem Sechseläutenmontag auf meinem Balkon im Züricher Kreis 5 und schreibe diese Zeilen. Wehmut macht sich breit.

Jessica Frei auf dem Balkon statt beim Sechseläute

Puzzle und Malbuch zum Zeitvertreib

Nicht nur das Sechseläuten ist Opfer des Coronavirus geworden. Eigentlich hätte ich Ende März meinen 33. Geburtstag mit meinen Liebsten feiern wollen und wäre danach für drei Wochen Urlaub auf eine tropische Insel verreist. Nichts davon hat stattgefunden. Alles abgesagt. Genauso wie die ersten Grillabende der Saison oder die geselligen Apéros, die bei diesem frühlingshaften Wetter erstmals im Freien hätten stattfinden können.

Stattdessen breitet sich auf meinem Couchtisch jetzt ein Puzzle (ein Geburtstagsgeschenk, das aufgrund der ausserordentlichen Nachfrage nach eben solchen Spielen des Zeitvertreibs mit mehrwöchiger Lieferverzögerung eingetroffen ist) mit 2000 Teilen und den Massen 136cm x 48cm aus. Gleich daneben liegt ein Malbuch für Erwachsene – ein Utensil, welches ich mir selbst nach Bekanntgabe des Lockdowns angeschafft habe.

Leere Trams und vergriffene Tomatensaucen

Seither sind fast zwei Monate vergangen. Schlangen vor Lebensmittelläden und Bäckereien, leere Trams und Busse, ein abgesperrtes Seebecken und auf den Trottoirs wandelnde, maskierte Gestalten sind zur neuen Realität geworden. Trotzdem: Daran gewöhnen mögen sich meine Augen irgendwie nicht so recht. Wenn ich von meinem Fenster die vorbeiratternden Züge auf dem alten Viadukt sehe, in denen nicht ein einziges Abteil besetzt ist, bleibt mir noch immer der Mund offenstehen.

Und auch wenn Klopapier inzwischen wieder im XL-Multipack erhältlich ist, will es mir nicht so recht einleuchten, dass die Tomatensaucen nach wie vor grösstenteils vergriffen sind. Meine Wahrnehmung und mein Verhalten haben sich dennoch innert kürzester Zeit verändert. Sehe ich im Fernsehen oder auf der Strasse grössere Personengruppen eng beisammen, versetzt mich das in einen für mich selbst kaum nachvollziehbaren Alarmierungszustand und ich bin versucht, sie darauf hinzuweisen, dass sie doch bitte Abstand halten mögen. Beim Einkaufen versuche ich einen grossen Bogen um andere Menschen zu machen. Kommt mir trotzdem jemand zu nahe, stellt sich bei mir ein seltsam beklemmendes Gefühl ein und ich ertappe mich manchmal wie ich die Luft anhalte.

In solchen Momenten muss ich selbst ein wenig über mich und meine irrationalen Ängste lachen.

Irgendwie hat diese Pandemie mich zu einem leicht paranoiden Wesen gemacht. Aber wie soll es anders sein, in einer Zeit, in der ein unsichtbares und dennoch hochansteckendes Virus grassiert und unsere Leben fest im Griff hat.

Verbundenheit trotz Abstand

Obwohl häufig von Solidarität die Rede ist, bin ich mir nicht sicher, ob uns diese Krise tatsächlich zu kameradschaftlicheren Zeitgenossen macht. Meinem Empfinden nach ist es mit der Freundlichkeit in diesen Tagen manchmal nicht weit her. Verübeln kann man es einander wiederum auch nicht – schliesslich könnte von jeder und jedem eine Gefahr ausgehen und das verordnete Abstandhalten ist der Herzlichkeit sicher auch nicht gerade zuträglich.

Und trotzdem spüre ich auch eine gewisse übergeordnete Verbundenheit. Dann etwa, wenn Bundespräsidentin Sommaruga im Rahmen der Medienkonferenz vom 16. März 2020 mit strengem Blick an uns als Gesamtbevölkerung appelliert und uns dazu auffordert, dass nun alle ihren Beitrag leisten müssen, um das Virus einzudämmen. Aber auch dann, wenn sich bei mir schon fast in Vergessenheit geratene Reisebekanntschaften aus Brasilien oder Indien melden und sich nach meinem Befinden auf der anderen Seite des Erdballs erkundigen.

Tatsächlich sind wir alle betroffen. Hier und dort. Und jeder auf ihre oder seine ganz persönliche Weise.

Niemand, der nicht im Kleinen oder Grossen hat Opfer bringen müssen. Niemand, der dieser Krise nicht machtlos ausgeliefert ist. Das macht uns alle zu Verbündeten.

Durchbrochene Alltagsroutinen

Ich kann dieser aussergewöhnlichen Situation aber auch viel Positives abgewinnen. Wie sehr ich es schätze, dass die Alltagsroutine durchbrochen ist, dass nicht mehr jeder Tag durchgetaktet ist und dass ich mich in meinen eigenen vier Wänden zerstreuen kann, ohne Furcht, dass sich da draussen etwas ereignet, das ich verpassen könnte. Plötzlich bleibt Zeit, um auf ausgedehnten Spaziergängen durch die Stadt, in der ich geglaubt habe, schon jede Ecke zu kennen, Neues zu entdecken.

Anstatt Freunde bei Wochen im Voraus arrangierten Nachtessen im Restaurant zu treffen, ruft man sie einfach spontan an – und erreicht sie eigentlich immer. Und dann – wenn man erst einmal akzeptiert hat, dass man dieser Pandemie nichts entgegenzusetzen hat und einem nichts anderes übrigbleibt, als sich den Umständen komplett hinzugeben – stellt sich trotz all der Ungewissheit ein erstaunlich friedvolles Gefühl ein. Das sind doch ermutigende Aussichten.